Fellow-Klasse 2011/12 Prof. Dr. Barbara Beßlich
Arbeitsvorhaben am Marsilius-Kolleg
Verrückte Erzähler? "Unzuverlässiges Erzählen" im medizinisch-psychologischen Kontext
Das Projekt verbindet erzähltheoretische Konzepte der Literaturwissenschaft mit psychologischmedizinischen Fragestellungen. Von „unzuverlässigem Erzählen“ (UE) spricht man in der Narratologie, wenn die von einem ktiven Erzähler vermittelte Geschichte Widersprüche aufweist, die nicht auf Fehler des Autors zurückzuführen sind, sondern Zweifel an des Erzählers Kompetenz oder Glaubwürdigkeit wecken. Ein unzuverlässiger Erzähler erzählt innerhalb der Fiktionslogik nicht die Wahrheit; er fordert den Leser indirekt dazu auf, eine zweite Version der erzählten Geschichte zu rekonstruieren. Unzuverlässige Ich-Erzähler sind von ihren Autoren oft als Melancholiker, Heuchler, Hochstapler oder kriminelle Psychopathen konstruiert, die sich in einer Lebenskrise befinden u. erzählen, um etwas zu verschleiern oder sich zu rechtfertigen (etwa Humbert Humbert in Nabokovs "Lolita"). Diese Narrationen regulieren die Emotionen ihrer Erzähler in auffälliger Weise. Das Projekt von Prof. Barnow untersucht solche Emotionsregulationen mit einem dimensionalen Ansatz, der auch für mein Projekt relevant ist. Auch das UE erweist sich als ein graduelles Phänomen, bei dem sich nicht immer klar u. binär das Urteil (un-)zuverlässig fällen lässt. Vielmehr scheint es gewinnbringend, eine skalierende Typologie UEs zu erarbeiten, die kulturelle Kontexte berücksichtigt. In Kooperation mit dem Projekt von Prof. Holm-Hadulla soll nach der Wechselwirkung von Melancholie u. Kreativität im UE gefragt werden.
FORSCHUNGSGEBIETE
- Narratologie, Literatur-und Kulturgeschichte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert
- Literatur und Geschichte: Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, Konstruktionen deutscher Geschichte in der Literatur nach 1989
- Kulturkritik der Moderne
- Literatur der Klassischen Moderne
- Intermedialität
- Literatur und Medizin
- Literatur und Religion (Renouveau catholique)
Lebenslauf
- 1989-1994 Studium der Geschichte und Germanistik sowie Philosophie (Grundstudium) an den Universitäten Bonn und Freiburg
- 1994-1995 Erstes Staatsexamen in Geschichte und Deutsch
- 1999 Promotion bei Prof. A. Aurnhammer (Germanistik); Zweit- und Drittkorrektor (Prof. E. Schulin, Prof. U. Herbert [Neuere und neueste Geschichte]) (Dissertation: summa cum laude; Rigorosum: summa cum laude)
- 1999-2005 wissenschaftl. Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Freiburg
- 2005 Habilitation, Gutachter: Prof. A. Aurnhammer, Prof. U. Herbert, Prof. G. Saße Akademische Rätin am Deutschen Seminar der Universität Freiburg
- 2007 Walter-Witzenmann-Preis der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (für die Habilitationsschrift: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800 - 1945)
- 2007/2008 Lehrstuhlvertretungen in Freiburg und Heidelberg
- seit 1.9.2008 ordentliche Professorin (W 3) für neuere deutsche Literatur (Nachfolge Lehrstuhl Prof. Dr. Dr. h.c. D. Borchmeyer) an der Universität Heidelberg
- 2009/2010 Geschäftsführende Direktion des Germanistischen Seminars
Ausgewählte Publikationen
Tabelle
Unzuverlässiges Erzählen im Dienst der Erinnerung. Perspektiven auf den Nationalsozialismus bei Maxim Biller, Marcel Beyer und Martin Walser. In: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Hg. von Barbara Beßlich, Katharina Grätz und Olaf Hildebrand. Berlin: Erich Schmidt 2006 (=Philologische Studien und Quellen, 198), 35-52. (zugleich in französischer Sprache als: La narration non able au service de la mémoire. Perspectives sur le national-socialisme chez Maxim Biller, Marcel Beyer et Martin Walser, in: Allemagne d'aujourd'hui 178 [2006], 15-31). |
Anamnesen des Determinismus, Diagnosen der Schuld. Ärztlicher Blick und gesellschaftliche Differentialdiagnostik im analytischen Drama des Naturalismus. In: Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600-1900). Hg. von Nicolas Pethes und Sandra Richter. Tübingen: Max Niemeyer 2008 (=Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 117), 285-299. |
Mütter im Visier. 'Versehen' und Telegonie in Otto Weiningers "Geschlecht und Charakter" - mit einem Seitenblick auf Weiningers Anleihen bei Goethe, Ibsen und Zola. In: KulturPoetik 4 (2004), 19-36. |
Wege in den 'Kulturkrieg'. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000 [Dissertation, Universität Freiburg 1999]. |
Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler. Berlin: Akademie 2002. |
Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung (1800-1945). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007 [Habilitationsschrift, Universität Freiburg 2005]. |
(mit Achim Aurnhammer und Rudolf Denk Hrsg.): Arthur Schnitzler und der Film. Würzburg: Ergon 2010 (=Klassische Moderne 15, Akten des Arthur Schnitzler-Archivs der Universität Freiburg, 1). |
Vates in Vastitate. Poetologie, Prophetie und Politik in Stefan Georges "Der Dichter in Zeiten der Wirren". In: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Hg. von Olaf Hildebrand. München: UTB 2003, 198-219. |
Zwischen Décadence und Katholizismus. Franz Blei als früher Vermittler des Renouveau catholique in Deutschland und Österreich. In: Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Roman Luckscheiter. Freiburg: Rombach 2008 (=Rombach Wissenschaften, Reihe Catholica, 1), 205-218. |
Cato als Repräsentant stoisch formierten Republikanertums von der Antike bis zur Französischen Revolution. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Hg. von Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann. Berlin, New York: de Gruyter 2008, Bd. 1, 365-392. |
KONTAKT
Prof. dr. barbara beßlich
Germanistisches Seminar
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
E-Mail: barbara.besslich@gs.uni-heidelberg.de