Fellow-Klasse 2023/24 Prof. Dr. Romedio Schmitz-Esser

Arbeitsvorhaben am Marsilius-Kolleg

Die Erfahrung des Abwesenden

Moderne naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Forschung konzentriert sich gleichermaßen auf das Vorhandene: Auf physische Präsenzen, vom Krankheitserreger bis zum Himmelskörper, von der historischen Schriftquelle bis zum Artefakt. Im Schatten dieses auf das Existente gerichteten Interesses liegt das Abwesende, Absente. Dieses Projekt widmet sich der Perzeption des Absenten aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: Zum einen wird die neuropsychiatrische Sicht auf dieses Phänomen genauer betrachtet, in der das Erleben körperlicher Abwesenheit Beispiele dafür liefern, wie real Abwesendes die Wahrnehmung der Gegenwart formen kann. Zum anderen eröffnet sich hier auch eine historische Perspektive: Wie die Neue Kulturgeschichte des Politischen gezeigt hat, sind persönlicher Kontakt und Präsenz wesentliche Voraussetzungen für das Funktionieren vormoderner Gesellschaften gewesen; entsprechend entwickelten sich hier auch in der Forschung weit weniger beachtete Strategien der für den häufigen Fall der physischen Abwesenheit. Dieses interdisziplinäre Vorhaben greift ambitioniert ältere Ansätze zur Kooperation zwischen den Disziplinen der Psychiatrie und Geschichtswissenschaften auf, um so die Tragfähigkeit einer modernen Psychohistorie unter neuen methodischen Rahmenbedingungen auszuloten. Geschichtliches Teilprojekt: Im individuellen Vorhaben möchte ich die Frage klären, woraus der Diskurs um das Abwesende im spätmittelalterlichen Lateineuropa sich speiste, welche Verbindungen unterschiedliche Diskursfelder theologischer, kultureller und politischer Art hier aufwiesen, wie spezifisch sie für das Spätmittelalter waren – und ob sich aus konkreten Erfahrungsberichten des Absenten etwa in der christlichen Mystik Modelle für die Partnerstudie und Impulse für eine moderne Psychohistorie ergeben können. Neurowissenschaftliches Teilprojekt: Im individuellen Vorhaben möchte ich Robotiktechnologie mit virtueller Realität (VR) kombinieren um bei gesunden Personen „Sensed-Presence“- Erfahrungen in unterschiedlichen Kontexten zu induzieren und die neuronalen Korrelate dieser Erfahrungen mithilfe der funktionelle NahInfrarrotResonanzSpektroskopie (fNIRS) zu erfassen.