Fellow-Klasse 2020-2021 Prof. Dr. Karen Nolte

Arbeitsvorhaben am Marsilius-Kolleg

Wirksamkeit oder Evidenz in der Medizin. Legitimationen des Aderlasses vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Der Aderlass steht paradigmatisch für überkommene Behandlungsmethoden der vormodernen Medizin und ist im Fortschrittsnarrativ der naturwissenschaftlich geprägten Medizin Ausgangspunkt einer Entwicklung, die mit der heutigen evidenzbasierten Medizin endet. Diese Perspektive auf den Aderlass und seine Geschichte hinterfragen und differenzieren eine Medizinhistorikerin, eine Wirtschafts- und Sozialhistorikerin und eine Biomedizinerin. Während die Medizinhistorikerin die bislang kaum untersuchte historische Entwicklung des Aderlasses im 19. und 20. Jahrhundert wissenschaftshistorisch und als Geschichte medizinischer Praktiken in den Blick nimmt, analysiert die Wirtschafts- und Sozialhistorikerin die Geschichte des Blutspendens im 20. Jahrhundert. Hier verbinden sich Vorstellungen von der therapeutischen Wirkung des Aderlasses mit altruistischen Motiven des Helfens sowie ökonomischen Interessen des Handels mit Blutkonserven. Die Biomedizinerin fragt nach dem therapeutischen Einsatz des Aderlasses und seiner medizinischen Evidenz im 21. Jahrhundert. Zusammen mit der Medizinhistorikerin untersucht sie, ab wann Kriterien der evidenzbasierten Medizin Publikationen über den Aderlass bestimmen. Mit der Wirtschafts- und Sozialhistorikerin analysiert sie anhand der Praxis des Blutspendens Wirksamkeit und Wahrnehmung des Aderlasses. Historisch wird herausgearbeitet, welche Akteur*innen und Gesundheitsberufe an dem Aderlass in den jeweiligen Settings beteiligt waren und sind.

Porträt Karen Nolte Fellow 2020/21 Hochkant

FORSCHUNGSGEBIETE

  • Geschichte von Psychiatrie, Gynäkologie/Geburtshilfe im 19. und 20. Jahrhundert in wissenschafts-, sozial- und geschlechterhistorischer Perspektive
  • Objektgeschichte der Chirurgie im 18. und 19. Jahrhundert
  • medizinische Ethik und Pflegeethik
  • materielle Kultur von Medizin und Pflege
  • Geschichte der Krankenpflege sowie nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe 


 


 

Lebenslauf

  • Seit Februar 2018 Professorin für Geschichte und Ethik der Medizin und Direktorin am gleichnamigen Institut der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
  • Bis Januar 2018 Akademische Rätin und Kustodin der Medizinhistorischen Sammlungen am Institut für Geschichte der Medizin in Würzburg.
  • 2017–2018: Mitglied in der Ethikkommision der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg
  • 2010 Habilitation: „Eine Alltagsgeschichte medizinischer Ethik – Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden im 19. Jahrhundert“. Zweites Buch: Todkrank. Sterbebegleitung im 19. Jahrhundert: Medizin, Krankenpflege und Religion, Göttingen: Wallstein 2016.
  • 2000–2002: Promotion an der Universität Kassel, Dissertation: „Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900“
  • 1997–2000: Frauenbeauftragte der Philosophischen Fakultät, Universität Göttingen 1991–1997: Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie und Soziologie in Göttingen (M.A.)
  • 1988–1991: Ausbildung zur Krankenschwester der Erwachsenenpflege in Celle; Gründerin und Mitherausgeberin des von der DFG geförderten EJournals „European Journal for Nursing History and Ethics“ (

    www.ehne.eu

    ), Mitherausgeberin der Zeitschrift NTM. Zeit- schrift für Wissenschaftsgeschichte
  • Seit Juni 2019: Vorsitzende des Fachverbands Medizingeschichte e.V.

Ausgewählte Publikationen

Tabelle

Todkrank. Sterbebegleitung im 19. Jahrhundert: Medizin, Krankenpflege
und Religion, Göttingen: Wallstein-Verlag 2016.
Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im
Anstaltsalltag um 1900 [Reihe: Geschichte und Geschlechter, Bd. 42],
Frankfurt/Main – New York: Campus 2003.
Mit Hähner-Rombach, S (Hg.). Patients and Social Practice of Psychiatric
Nursing in the 19th and 20th Century, Stuttgart: Steiner Verlag 2017.
Mit Kreutzer, S (Hg.). Deaconesses in Nursing Care – International
Transfer of a Female Model of Life and Work in the 19th and 20th
Century, [Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts
für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Beiheft 62],
Stuttgart: Steiner Verlag 2016.
Mit Fangerau H (Hg.). »Moderne« Anstaltspsychiatrie im 19. und 20.
Jahrhundert – Legiti- mation und Kritik [Medizin, Gesellschaft und
Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Ge- schichte der Medizin der
Robert Bosch Stiftung, Beiheft 26], Stuttgart: Steiner Verlag 2006.
Mit Christine E. Hallett. Crossing the Boundaries. Nursing, Materiality
and Anaesthetic Prac- tice in Germany and Britain, 1846–1945, in:
European Journal for Nursing History and Ethics 1/2019, 40– 66. DOI:
10.25974/enhe2019-4en.
»Leiden mit Geduld« – Schmerz und Geschlecht im 19. Jahrhundert:
Praxistheoretische Re- konstruktionen, in: GENDER – Zeitschrift für
Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 10/2018, 1, 29–46.
The Debate on ›Nurse Anaesthetists‹ in West Germany during the 1950s and
1960s, in: Pfütsch. P (Hg.). Marketplace, Power, Prestige. The
Healthcare Professions’ Struggle for Recognition [MedGG, Beiheft 70],
Stuttgart: Steiner Verlag 2019, 21–35.
Hospital und Klinik, in: Sommer, M; Müller–Wille, St; Reinhardt, C
(Hg.). Handbuch Wissen- schaftsgeschichte, Stuttgart: Verlag J.B.
Metzler 2017, 201–210.
Mit Kinzelbach, A; Neuner, S. Medicine in practice: knowledge, diagnosis
and therapy, in: Martin Dinges, Kay Peter Jankrift, Sabine
Schlegelmilch, Michael Stolberg (Hg.): Medical practice (1600–1900):
Physicians and their patients [=Clio medica, 96], Amsterdam: Brill
Rodopi 2016, 99–130.

KONTAKT

Prof. Dr. Karen Nolte

Medizinische Fakultät
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin 
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
E-Mail: karen.nolte@histmed.uni-heidelberg.de